Tim Tersluisen (LA-Mitglied) ist internationaler und nationaler Video-Weitenmesser. Er hat bei seinem vierten internationalen Einsatz bei der Leichtathletik-Hallen-Europameisterschaft ein neues Weitenmesssystem getestet und berichtet hier von seinen Erlebnissen im polnischen Toruń.
Zweiter Anlauf fürs Neusystem
Am 15.12.2020 ging bei mir eine Email von European Athletics ein. Der Betreff war „Appointment Proposal“. Es war die Einladung zu meiner vierten Europameisterschaft. Diesmal wurde ich in meiner Funktion als Internationaler Video Distance Measurement Judge (Internationaler Obmann für Videoweitenmessverfahren) für die Hallen-Europameisterschaft in Toruń (Polen) berufen. Angesichts der andauernden Covid-Lage ein Wagnis, so dachte ich. War doch mein Einsatz bei der Freiluft-Europameisterschaft in Paris im April 2020 bereits an Covid gescheitert. Der Französische Verband hatte die Ausrichtung der EM zwei Monate vor dem Termin ersatzlos zurückgezogen. Für Paris 2020 war angedacht gewesen, dass ich für den Europäischen Verband ein neues Video-Weitenmesssystem teste und das neue Bediener-Team einweise. Gleiches hatte ich für den Vebrand bereits 2017 in Lille getan. Nun konnte ich davon ausgehen, dass in Polen die Einweisung nachzuholen sein wird. Meine Freude hielt sich dennoch in Grenzen, weil Covid über allem schweben sollte.
Europameisteschaften im Schatten von Covid
Der Termin der EM kam näher und näher. Tag um Tag wurde deutlicher, dass die Europameisterschaft stattfinden wird. Die siebzehn Internationalen Offiziellen hatten im Vorfeld eine Menge Lesestoff hinsichtlich der Hygienemaßnahmen und -vorkehrungen erhalten. Jeder hatte eine Selbstverpflichtungserklärung zu deren Einhaltung unterzeichnen müssen und einige hatten vorsorglich Anschlussquarantäne nach der Rückkehr eingeplant, einschließlich mir.
Ganz unspaßig wurde es, als es um die konkurrierenden Vorlauffristen bezüglich der Covid-Test ging, die bei Einreise nach Polen beizubringen waren. Zunächst verlangte die Fluglinie KLM einen PCR-Test, mit Abstrich nicht älter als 72 Stunden. Zudem war vor dem Abflug ein Antigen-Test Pflicht, der nicht älter als vier Stunden sein durfte. Das polnische Organisationskommittee und der Polnische Staat hingegen verlangten andere Vorläufe. Daraus folgten für mich vor Reiseantritt zwei PCR-Tests und ein Antigen-Test.
Protokoll mit Schwächen
Bei Ankunft in Polen zeigten sich recht schnell die Lücken zwischen Wunsch und Wirklichkeit der Hygienekonzepte. Diese sahen vor, Athleten und Offizielle prinzipiell voneinander zu trennen. Aufgrund mangelnder Absprachen fand ich mich jedoch in Warschau in einem Bus, vollgestopft mit spanischen und portugiesischen Athleten sowie Pressevertretern wieder. Gemeinsam fuhren wir mehr als drei Stunden durch die Landschaft Polens. Da unsere Akkreditierungen erst nach einem negativen Covid-Test in Toruń ausgehändigt werden sollten, wussten die örtlichen Helfer*innen nicht, dass mein Transport eigentlich im PKW vorgesehen war.
In Toruń eingetroffen ging es für alle zum Covid-Test. Das Testzentrum war in einer 4°C kalten Tiefgarage untergebracht, in der sich im Laufe meiner Anwesenheit ca. 150 Personen auf engstem Raum versammelten, vor sich hinfroren und auf ihre Testergebnisse warteten. Nach dreieinhalb Stunden war auch mein Testergebnis aufgetaucht und ich durfte zu Fuß ins Hotel marschieren.
Nigelnagelneues Messsystem
An meinem ersten Arbeitstag gab es auf meiner Angenda nur einen 30-Minuten-Termin am Spätnachmittag: Videoweitenmess-Training. Gemeint war ein Training für das Team, das ich leiten sollte. Ich war vorgewarnt worden, dass die Messanlage neu ist und die Bediener noch keine Erfahrung mit dem System haben. Schlechter könnten die Voraussetzungen kaum sein, dachte ich mir und stiefelte zum Oberrang in der Arena Toruń hinauf, wo ich den Platz der Auswertung ausgemacht hatte. An Ort und Stelle traf ich auf drei Mitarbeiter, die ich bereits kannte: Zwei Spanier, die die Anlagensoftware entwickelt hatten, und einen Franzosen vom Dienstleister Matsport, der die Anlage bedienen sollte. Die Wiedersehensfreude war groß und wich glücklicherweise nicht der Ernüchterung, denn ganz so schlimm wie befürchtet war die Lage vor Ort nicht.
Gut war, dass die Anlage korrekt eingemessen war und offenbar auch stabil lief. Weniger gut war, dass der Bediener wirklich keine Erfahrung mit dem Messsystem hatte. Das Training am Abend zeigt dies deutlich und zeigte auch andere Schwächen, die das neue System mit sich brachte. Alles in allen würde im Wettkampfbetrieb die Auswertung der Sprünge zu lange dauern und vermutlich erhebliche Zeitprobleme für TV und Livestreams nach sich ziehen.
Nach einigen Gesprächen mit dem Bediener und den Software-Entwicklern wurde das Benutzerinterface für den ersten Wettkampftag umgeschrieben. Dadurch wurde die Bedienung einfacher und direkter. Dies sollte Zeit sparen.
Der erste Kontakt
Am ersten Wettkampftag trafen mein polnischer Verbindungsmann und eine Dateneingeberin ein. Mein Verbindungsmann freute sich über einen Deutschen als ITO und war begeistert davon, Deutsch sprechen zu dürfen. Mir kam das entgegen, weil sein Englisch mehr schlecht als recht war. Die Dateneingeberin hingegen sprach nur Polnisch. Sie zu steuern und gegebenenfalls zu bremsen war die Herausforderung der nächsten drei Tage. Letztenendes war es mithilfe meines Verbindungsmanns nur eine kleine Herausforderung.
Feuertaufe
Es knisterte in der Luft. Mein Team bestand aus zwei Spaniern, einem Franzosen, einem Polen, einer Portugiesin und mir, einem Deutschen. Wir alle hatten noch nie zusammengearbeitet und hatten Systeme unter den Fingern, mit denen wir zu dem Zeitpunkt nur bedingt umgehen konnten. Das alles geschah bei einer Europameisterschaft, die live in die ganze Welt übertragen wird. Erinnerungen an Berlin 2018 wurden wach, wo die Videoweitenmessung wegen Fehlbedienung zu massiv schlechter Presse geführt hatte.
Alle Konzentration lag nun auf dem ersten Sprung. Der kam perfekt und hinterließ auch einen sauberen Abdruck im Sand, an dem es nichts zu deuteln gab. Klick, Klick, Enter, Freigabe und das Ergebnis war auf den Grafikboards und in den Overlays von TV und Livestream. „Gott sei Dank“, dachte ich bei mir.
Von Sprung zu Sprung wurden die Abläufe im Team und in der Bedienung flüssiger, sodass wir am Ende der ersten Session absolut fehlerfrei waren. Die Erleichterung war allen anzumerken, als ich die erste Session im Team auswerten konnte.
Übung macht den Meister
Es kam zum Glück wie erhofft: Von Session zu Session wurden die Mitarbeitenden sicherer und sicherer. Mein Steuerungsbedarf reduzierte sich auf die Ergebnisauswertung und -freigabe. Nur in Einzelfällen musste ich noch bei den Administrativen Vorgängen einwirken. Wir wuchsen mit der Zeit zu einer kleinen, internationalen Gemeinschaft heran, in der jeder seine Aufgabe hatte und diese auch voll ausfüllen konnte. Dafür kam auch von allen Seiten Lob, was das Team und mich natürlich sehr freute. Die Bereitstellung der Ergebisse erfolgte in Rekordzeit, was bei den vorangegangenen Veranstaltungen meist nicht so war.
Die neue Weitenmessanlage zeigte sich als gute Weiterentwicklung der bekannten Technik aus Lille, Bydgoszcz und Berlin. Zwar hat sie noch einiges an Verbesserungspotenzial, jedoch haben die Entwickler des Systems zugesagt, den Anmerkungskatalog, den sie von mir bekommen haben, zu übernehmen. Auch heute noch stehen wir im Austausch über Softwareoptionen und zu neuen Ideen.
Zurück in den Alltag
So schnell wie die Europameisterschaft begonnen hat, endete sie nun auch. Plötzlich war die siebte Session vorbei und alles strömte in alle Himmelsrichtungen davon. Der Terminwettlauf um Fristen für Covid-Tests war längst noch nicht gewonnen, denn der Flug und die Einreisebestimmungen forderten für jeden andere Vorläufe. Zudem stieg der Druck, rechtzeitig am Flughafen zu sein, um an Ort und Stelle einen Antigen-Test zu machen.
Am Ende saß ich mit allen Tests meiner Einreiseanmeldung ausgerüstet im Flieger, umgeben von orange gekleideten Athleten und Betreuern. Bei vielen von ihnen gab es deutliche Passformprobleme mit den Schutzmasken. Ich verkroch mich in meiner FFP2-Maske und drehte die Belüftungsdüse weit auf, in der Hoffnung, mir nichts einzufangen.
Zuhause angekommen begann dann meine freiwillige Quarantäne. Das Gesundheitsamt des Kreises weckte mich am Morgen nach meiner Ankunft in Deutschland telefonisch. Ob ich denn meine Covid-Testergebnisse schon eigeschickt hätte, wollte man wissen. Natürlich nicht, denn das war bislang nicht gefordert. Also die Tests per Mail hingeschickt und damit die Amtsforderungen erfüllt. Nach vier Tagen machte ich noch freiwillig einen Antigen-Test, drei Tage später erneut einen. Beide waren negativ.
Trotz Covid: Eine spitzen Woche erlebt
Was zurück bleibt sind Erinnerungen an einen fordernden Einsatz, viele internationale Freunde, die ich wieder treffen durfte und neue Bekannte, die ich dazugewonnen habe. Die Zeit in Polen war eine wertvolle, schöne Erfahrung, die ich keinesfalls missen möchte.